Stell dir einmal vor, du hast dein letztes Geld zusammengekratzt und dir davon ein Glücksticket bei einer Airline gekauft. Spotbillig, Ziel unbekannt. Und Glückspilz, der du bist, bekommst du Rhodos zugelost.
Rhodos ist die Insel, auf der die Sonne immer ein bisschen verliebter scheint: warmes Licht auf weißen Häusern mit blauen Dächern, Olivenhaine, die im Wind flüstern, Meer in allen Türkistönen, Meze wie kleine Portionen Glück und überall dieser Duft aus Salz, Sommer und südländischer Leichtigkeit, der dir zuflüstert: Hier darfst du einfach atmen.
Du befindest dich gerade irgendwo am südlichsten Zipfel Südamerikas, hast also einen ganz schön langen Flug vor dir. Los geht’s. Kurz vor der Landung ziehst du dich schon mal passend an: T-Shirt, kurze Hose, stylische Sonnenbrille. Dann ertönt die Durchsage des Kapitäns: „Liebe Fluggäste, wir haben unsere Flughöhe verlassen und befinden uns im Landeanflug. Aufgrund technischer Probleme sind wir geringfügig vom Kurs abgewichen. Ist aber nicht so dramatisch, es handelt sich nur um etwa 15 Grad.“
Na gut. Also machst du dich bereit, stehst vor der Kabinentür, sie öffnet sich, du gehst einen Schritt vorwärts und – zack.
…ein eiskalter Sturm und Schnee peitschen dir ins Gesicht.
Du bist in Murmansk. Kennst du Murmansk? Nicht? Dann lass es dir erklären:
Stell dir einen Ort vor, an dem der Wind nicht weht, sondern mit dir verhandelt, ob du heute erfrierst oder morgen.
Murmansk ist nicht einfach kalt.
Murmansk ist kälter als das Herz deines Ex-Chefs,
kälter als das Büfett am Sonntagabend,
kälter als ein Montag nach drei Stunden Schlaf.
Hier oben, knapp hinter dem Ende der Welt, liegt eine Stadt, die aussieht, als hätte jemand vergessen, sie wieder mitzunehmen.
Beton, Wind, Schnee.
Beton, Wind, Dämmerlicht.
Beton, Wind, Hoffnungslosigkeit.
Murmansk ist der Ort, den Gott erschaffen hat, als er kurz unkonzentriert war.
Die Abstellkammer des Himmels.
Der sibirische Kühlschrank mit Betonfassade.
Murmansk ist schlimmer als Belém – und das will was heißen, wie wir seit letzter Woche wissen.
Natürlich ist das nur eine Metapher. Aber stell dir vor, dieses Glücksticket und dieser Flug wären dein Leben. Denn tatsächlich ist es so, dass es oft winzig kleine Veränderungen sind, die für sich genommen erst einmal gar nichts bewirken. Aber sie werden zu Gewohnheiten, guten oder schlechten, die über Dauer und Häufigkeit riesige Veränderungen auslösen.
Eine Tüte Chips an einem Abend ist kein Problem.
Aber jeden Abend weggeknuspert?
Das ist der Stoff, aus dem vier Kleidergrößen genäht werden.
Und genauso funktioniert es mit positiven Dingen. Lern doch mal jeden Tag 20 Minuten eine Sprache. Das sind in der Woche über zwei Stunden. Im Monat neun Stunden. Im Jahr 122 Stunden! Dasselbe gilt für jedes andere Thema – Fitness, Lesen, Weiterbildung.
Weißt du, woran die meisten im Fitnessstudio scheitern?
Weil sie zu viel auf einmal wollen.
Sie überfordern sich, stellen den ganzen Alltag auf den Kopf – und nehmen sich damit die Chance, dass eine kleine, aber kraftvolle Gewohnheit überhaupt erst wachsen kann.
Kennst du die Geschichte von Momo? Nicht? Dann solltest du sie lesen.
Für Momo ist man nie zu alt – und nur in den allerersten Lebensjahren zu jung.
Dort gibt es Beppo Straßenkehrer. Und Beppo erklärt Momo, wie man eine Straße fegt.
„Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken.
Immer nur an den nächsten Besenstrich.
Besenstrich… Atemzug… Besenstrich… Atemzug.
Und irgendwann merkst du: Die Straße ist sauber.“
Und genau das ist das ganze Geheimnis:
Kleine Schritte. Kleine Änderungen. Kleine Kurskorrekturen.
Heute unsichtbar.
Morgen spürbar.
Übermorgen der Unterschied zwischen
Murmansk und Rhodos.




